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Berlin Marathon 2011

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Sonntag, 25.09.2011, mein 16. Marathon

Was ist Zeit? Soll ich ihr dankbar sein, weil sie mir viele schmerzhafte und unschöne Erinnerungen genommen hat - oder soll ich traurig auf sie blicken, weil sie dafür sorgt, dass die schönsten Erinnerungen die ich habe, allmählich verblassen?

Da schaue ich auf das Foto vom Berlin Marathon. Geschichte. Aus und vorbei.Es war einer meiner schönsten Tage. Einer jener Tage, wie er einem im Leben nur ganz selten begegnet. Der schöne Sonnenaufgang, als ich auf dem Weg zum Startgelände unterwegs war. Und wie schön sich die Vorfreude und die Anspannung angefühlt haben. Ich konnte gelassen auf strenge 12 Wochen zurück blicken während denen ich wirklich hart trainiert habe und auf Vieles verzichten musste. Nun legte sich dieser herrliche Morgen über die Hauptstadt Deutschlands, blauer Himmel, gut gelaunte Menschen - und eine spürbare, aber angenehme Nervosität.

Mit der Gewissheit alles richtig gemacht zu haben und dass ES heute klappen würde, schreitete ich langsam auf das Startgelände zu. Ich war früh dran und es war erst wenig los. 40'000 Läufer und Läuferinnen werden erwartet. Ich hatte noch "Zeit" diese tolle Stimmung zu geniessen. Ich ziehe mich um. Gehe langsam vor und weiss genau was ich als nächstes tun muss. Denn alles ist genauestens geplant und durchdacht.

Dann schreite ich auf meinen Startblock zu, komme ins Gespräch mit einem Mitläufer. Er verschwindet in einem anderen Block. Dann bin ich da, am Start. Es dauert noch über eine Dreiviertelstunde bis zum Startschuss. Ich mache nicht mehr viel. Noch zweimal gehe ich aufs Toi-Toi-Häuschen. Wieder komme ich mit einem Mitläufer ins Gespräch. Er will 3:15 laufen. Steht aber neben mir in Block C wo man eigentlich max. 3h brauchen sollte. Egal. Er hat Verwandte in Berlin und läuft hier fast jedes Jahr. "Meinst Du zwei Gels reichen?" - sagt er fragend zu mir, als ich ihm auf seine Frage "wie viele Gels hast Du mit dabei?", antworte, dass es zwei sind. "Klar", sage ich, "bei km 27.5 kann ich ja wieder auftanken". Früher hätte mich eine solche Frage zum Zweifeln angeregt. Aber heute ist mein 16. Marathon und ich habe alles genau vorbereitet. So denke ich auch nicht länger darüber nach. Zwei sind genug. Und dann geht alles ganz schnell.

Startschuss.... nichts bewegt sich. Ewig nichts! Dann kann man leicht Traben und dann endlich... bin ich mitten im Berlin Marathon. Was habe ich mir nicht den Arsch aufgerissen, dass ich hier mitlaufen kann. Und meine Anmeldung hat noch im letzten Augenblick geklappt - ein Tag später und ich wäre zu spät gewesen - doch das ist jetzt alles unwichtig. Geschichte. Ich bin jetzt hier und Laufe!

Ich beginne ganz langsam. Nach 5km realisiere ich, dass ich wirklich sehr langsam gestartet bin. Und nach 10km habe ich das Gefühl ich laufe so langsam, dass ich locker während dem Laufen noch eine Zeitung lesen könnte. "Ich habe nicht so hart trainiert, damit ich hier eine ruhige Kugel schiebe - los! Los geht‘s! Tempo raufdrehen!" schrie es innerlich... und ich legte los... und von da an war ich im Rennen angekommen. Ich lief schnell - konnte das Tempo gut halten und erreichte eine Halbmarathonzeit die nur ein paar Sekunden über dem lag, was ich geplant hatte. Und 2km später kam - für einen Marathon viel zu früh - die Gewissheit hoch, dass ich ES heute schaffen würde. Vor rund 9 Jahren habe ich völlig unerwartet an der berühmten 3h-Marathonschallmauer gekratzt und diese nur um 32 Sekunden verpasst. Und in all den vergangenen Jahren stieg ich "verkrampft" in jedes Rennen um diese Schallmauer endlich zu durchbrechen - immer ohne Erfolg. Immer kam irgendwann der gnadenlose Hammermann und sagte mit einem kalten Lächeln: "Stopp! zu wenig trainiert.". Doch heute war alles anders. Ich war so gut trainiert wie noch nie zuvor und auch mental war ich unglaublich stark. So geschah es tatsächlich, dass bei km23 eine riesige Freude in mir aufkam: "Hey, Du musst nur noch bis ins Ziel laufen und dann hast Du die 3h-Schallmauer durchbrochen - einfach so". Und das Gefühl blieb. Km 26, 28, 30. Nach km 30 spürte ich leicht den äusseren Oberschenkelmuskel im linken Bein. Ich blieb ruhig, lief mein Tempo und fühlte mich weiter grossartig. Km37... hier passierte mir ein psychologisches Missgeschick. Ich wollte sehen wie ich im Rennen liege und rechnete, dass ich ab km 38, also für die letzten 4km noch 4 x 4 = 24 Minuten brauchen würde. Ich war nach meinem Blick auf die Uhr ganz verwirrt....24 Minuten! Ein "Nein!" ging durch meinen Kopf.... "das wird ja nichts mehr mit unter 3 Stunden." - mein Gehirn produzierte ohne mein Zutun noch weitere Gedanken. Der 3h Pacemaker ist doch hinter mir. Irgend etwas stimmt hier nicht. Und nach 500m vermeldete meine innere Stimme mit Freude: "4x4 gibt 16!" - und der erneute Blick auf die Uhr führte wieder zu dem wunderschönen Gefühl ES zu schaffen. Ein "Herrlich!" ging durch mich - ich winkte erneut den jubelnden Zuschauern zu und passierte bereits das nächste km-Schild. Und dann ging es  rechts - links - rechts - links - und dann stand es majestätisch vor mir: das Brandenburgertor! 200m dahinter muss es sein: das Ziel. Ach was würde ich dafür geben, wenn man bei einem solchen Moment die Zeit anhalten könnte. "Stopp!" und alles wäre auf der Stelle wie versteinert. Ich würde mir gleich ein kühles Bier holen, mich gemütlich hinsetzen und noch einmal alles in Erinnerung rufen. 6 mal bin ich in der Vorbereitung eine Strecke von 35km gejoggt. Verrückt. Das bedeutet jeweils einen halben Tag Aufwand, mit Vorbereitung und der Zeit nach dem Lauf, bis man wieder im Familienalltag mitmachen kann. Ich erinnere mich an eine harte Intervall-Einheit wo ich nach dem letzten km, den ich spurten musste und es erst noch den Berg hoch ging, nach Erreichen des Ziels, einfach auf dem Asphalt - mitten auf der Strasse - liegen blieb: ausgepowert! Und doch mit einem guten Gefühl. Ich würde auch an meine härtesten Einheiten zurückdenken: die 18km-Tempoläufe, die ich jeweils am Montag in der Mittagspause absolviert habe. Einfach so während eines gewöhnlichen Arbeitstages bin ich mit Ein- und Auslaufen einen Halbmarathon gelaufen. Verrückt, oder?! Aber ich habe es einfach getan, egal, ob ich müde war oder nicht. Und jetzt präsentiert sich mir das Brandenburger Tor und der 3h Pacemaker ist weit hinter mir, unerreichbar bin ich für ihn. Weiter geht‘s! Unter dem Brandenburger Tor geschieht es dann tatsächlich, ich bleibe kurz stehen um vor Freude in die Luft zu springen und die Faust in die Höhe zu strecken: ich juble wie ein Fussballer der ein Tor erzielt hat. Und laufe auf die unglaubliche Zuschauermasse zu. Ich setze zum Sprint an, verlangsame aber gleich wieder, weil ich denke "das will ich geniessen" - und ich geniesse - Tränen drücken in die Augen und nicht zum ersten Mal während diesem Lauf - ich unterdrücke sie erfolgreich. Ich winke den Leuten zu, zeige mit dem Daumen nach oben, denn mir wird klar, dass die Zuschauer - die an der ganzen Strecke standen und dafür sorgten, dass ich weder Schmerzen noch Müdigkeit verspürt habe - mich bei meinem tollen Lauf unterstützt haben; auch wenn ich keinen einzigen gekannt habe. Ich erblicke die Laufzeit auf einer Anzeige im Ziel und sehe, dass der Sekundenzeiger 50 anzeigt. "Schnell!", schiesst es mir durch den Kopf, "keine Sekunden mehr verschenken." Und schon setze ich zum allerletzten Sprint an... und erreiche das Ziel - wie ich es nachher erfahren werde - in für mich traumhaften 2:55:34! Noch vor einem Jahr erreichte ich in Basel lediglich eine Zeit von 3:16 - und nun das! Das harte Training hat sich gelohnt. Zahltag gewissermassen. Ein kurzer Dank an das "Unplanbare", das "nicht unter meiner Kontrolle Stehende" - an den "Zufall" wie es die einen nüchtern sagen würden oder an das "Schicksal" wie es die anderen spektakulär formulieren würden - einfach ein kurzer Dank, dass es so kam wie es kam. Freude kommt über mich. Freude die schon vor dem Lauf da war, schon in den Tagen zuvor, Freude die jetzt noch grösser wird und mich einfach umarmt, verschlingt. Auch hier sollte man die Zeit stoppen können. Was ist das für ein seltener Moment im Leben: direkt nach der Ziellinie nach einem Marathon, der erst noch inklusive Vorbereitung super lief. Doch die Zeit schreitet voran. Und noch unter der Dusche denke ich schon an meinen Flug, der mich in ein paar Stunden wieder nach Hause bringt. Und an die Landung. Denn meine Frau und mein Sohn holen mich ab. Was habe ich nicht oft in Gedanken genau diese Situation durchgeübt um mich mental für den Lauf zu stärken. "Ich habe es geschafft!" - und dann eine feste Umarmung. Das reicht. Mehr Worte schaden nur dem Moment. Und sie war dann wirklich unglaublich schön, die Begrüssung.

Und jetzt schaue ich auf die Bilder und denke zurück, was noch vor einer Woche war. Die Zeit wird mir Vieles davon wieder nehmen oder verändern. Aber was soll's. So ist der Lauf der Dinge. Wer kümmert sich in 50 Jahren noch darum, dass dieser 25.09.2011 für mich ein so grossartiger Tag war? Gut, vielleicht ein Neffe oder ein Enkel, der irgendwie mitbekommt, welch tollen Lauf ich, als sein Vorfahre, in Berlin hingelegt habe. Und vielleicht wird es ihn dann motivieren noch härter zu trainieren. Vielleicht wird er dann wie ich nach den harten Trainings einfach mal zuerst die Beine eiskalt abduschen und sich wundern, wie viel Spass ein derart forderndes Training machen kann. Und wer weiss, vielleicht wird er dann sogar noch schneller laufen als ich und sich noch mehr freuen - auch wenn ich mir mehr Freude nicht vorstellen kann - vielleicht läuft er in Gedanken sogar "gegen" mich... und vielleicht wird er mich dann locker schlagen. Ich würde es ihm von Herzen gönnen, denn egal was in der Zwischenzeit das Leben alles an Schönem und Unschönem produziert hat, ich hatte an diesem 25.09.2011 meine Freude - und wie! Danke an die Menschen die beim planbaren Teil das Ihrige dazu beigetragen haben und ein Danke an das "unplanbare Unbekannte" dafür, dass es sich von seiner guten Seite gezeigt hat. Danke Berlin!

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